Januar 21, 2010

Food for thought

"Man würde sich freilich täuschen, wenn man die offiziellen Deklamationen einer Beendigung des Kampfes und seiner Überführung in ein konsensorientiertes Deliberieren wörtlich nehmen und sich dementsprechend einrichten würde. Tatsächlich bleibt auch hier das intellektuelle Agieren der Leitvorstellung des Kampfes verbunden, nur dass dies nicht mehr offen ausgesprochen und die Auseinandersetzung nicht länger in der Form des als solchen angekündigten Duells ausgetragen wird. Im Anschluss an die Begrifflichkeit von Clausewitz und Delbrück hat ein Strategiewechsel stattgefunden, in dem die Orientierung am Niederwerfen auf die am Ermatten umgestellt worden ist. Und zu diesem Strategiewechsel gehört ganz entscheidend ein Austausch der Semantik, bei dem die Begrifflichkeit des Kampfes und der Auseinandersetzung durch die der Verständigung und des Konsenses verdrängt worden ist.
Wer das jedoch wörtlich nimmt, die Rüstung ablegt und sich neugierig dem Geschehen einer konsensorientierten Kommunikation nähert, hat bereits verloren. Er gleicht jenen Trojanern, die nach zehn Jahren Belagerung durch die Griechen deren überraschenden Abzug für das Ende des Kampfes und das zurückgelassene große Pferd für eine Opfergabe hielten, die Mauern niederrissen und das Pferd in die Stadt zogen. (...)

Gramsci hat (...) den Intellektuellen einen wichtigen Platz in der veränderten Form der Auseinandersetzung zugewiesen. (...) In ihrem Ringen um die intellektuelle Hegemonie werden Erhalt und Verlust der politischen Macht vorbereitet. Damit hat Gramsci die Intellektuellen als Spezialisten der Ermattungsstrategie identifiziert, die nach dem Ende der napoleonischen Niederwerfungsstrategie, in der die schiere Überlegenheit der Massen ausschlaggebend war, nunmehr das Heft des Handelns übernommen hatten. Aber Gramsci blieb als Marxist auf den Kampf fixiert. Zu jenem Odysseus'schen Coup, der mit dem fingierten Abzug und der Opfergabe als Angriffswelle den Krieg als Frieden und den Frieden als Krieg ausgab, drang er nicht vor. Das gelang erst jenen, die ihre eigene parteiliche Position als gesellschaftlichen Konsens durchzusetzen versuchen. Sie errichteten Befestigungen, während sie sich mit der Friedenstaube tarnten. Das sind ganz gefährliche Kämpfer, die aus der Friedenstaube ein Kampfzeichen gemacht haben."

Aus: Herfried Münkler, "Niederwerfen oder Ermatten? Vom Kampf der Intellektuellen um die Hegemonie", in Zeitschrift für Ideengeschichte, 4/2009, S.10, 15-16.

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