Dezember 09, 2010

168 Jahre Fürst Kropotkin

Lassen wir neben den hier mittlerweile regelmäßig begangenen Geburtstagen diverser Individualisten und Individualanarchisten zur Abwechslung auch einen Anarchokommunisten zu Wort kommen, und zwar, wenn man so will, den  theoretischen Begründer des anarchistischen Kommunismus, Fürst Pëtr Alekseevič Kropotkin, der am 9. Dezember 1842 in Moskau geboren wurde, Kammerpage des Zaren, Sekretär der Sektion für physische Geographie in der Russischen Geographischen Gesellschaft, anarchistischer Revolutionär war, um ein Haar Bildungsminister unter Kerenski geworden wäre (was er ablehnte). Kropotkins Werke strotzen vor Szientismus, tatsächlich will er den Anarchismus auf einernaturwissenschaftlichen Grundlage stellen; seine Vorstellung eines auf regionaler Autarkie aufbauenden freiheitlichen (und freiwilligen) Kommunismus und seine Verherrlichung des mittelalterlichen Stadtlebens muten bisweilen fast schon reaktionär an; nichtsdestotrotz ist Kropotkin eine wichtige Figur, welche die anarchistische Debatte nachhaltig geprägt hat, und dessen naturwissenschaftlichen Forschungen in jüngeren Jahren ebenfalls in gewisser Weise "rehabilitiert" wurden ("Kropotkin was no crackpot" von Stephen Jay Gould). Hier ein Auszug aus Moderne Wissenschaft und Anarchismus, Berlin, 1904, S.49-50, der den für das 19. Jahrhundert so typischen Szientismus Kropotkins illustriert:

"Die Stellung des Anarchismus in der modernen Wissenschaft [Erster Abschnitt]

Welche Stellung nimmt nun der Anarchismus in der großen geistigen Bewegung des 19. Jahrhunderts ein? (...)
Der Anarchismus ist eine Weltanschauung, die auf einer mechanischen oder besser kinetischen Erklärung aller Naturerscheinungen beruht und die gesamte Natur umfaßt - inbegriffen das Leben der menschlichen Gesellschaften mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Problemen. Seine Forschungsmethode ist die der exakten Naturwissenschaften, bei welchen jede wissenschaftliche Folgerung durch dieselbe Methode begründet und gerechtfertigt werden muß. Sein Ziel ist der Aufbau einer synthetischen Philosophie, welche die Aeußerungen des gesamten Naturlebens, auch des Gesellschaftslebens in ihren Betrachtungskreis zieht, - unter Vermeidung der Irrtümer, in die Comte und Spencer aus den bereits aufgedeckten Gründen verfielen.

Es ist klar, daß der Anarchismus aus diesem Grunde auf die meisten modernen Lebensfragen andere Antworten geben und sich zu ihnen anders verhalten muß wie alle andern politischen Parteien, in manchen Beziehungen selbst wie die sozialistischen Parteien, die sich immer noch nicht von gewissen alten metaphysischen Ideen frei gemacht haben.

Die Entwicklung einer vollkommen mechanischen Weltanschauung [!] befindet sich hinsichtlich der Soziologie, d.h. hinsichtlich jenes Teiles, der sich mit dem Leben und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften beschäftigt, noch in den Kinderschuhen. Aber das Wenige, was geleistet ist, trägt bereits - vielfach selbst unbewußtermaßen - den gekennzeichneten Charakter. In der Rechtsphilosophie, der Ethik, der Nationalökonomie und der Geschichte der Völker und ihrer sozialen Einrichtungen hat der Anarchismus sich bereits einen Platz erobert und bewiesen, daß er sich nicht mit metaphysischen Voraussetzungen begnügen will, sondern für seine Schlußfolgerungen eine naturwissenschaftliche Grundlage zu finden sucht.

Weit entfernt sich vor der Metaphysik Hegels, Schellings, Kants, oder vor den Kommentatoren des römischen und kanonischen Rechts wie vor den gelehrten Professoren des Staatsrechts oder vor der politischen Oekonomie von Metaphysikern zu beugen, sucht er vielmehr sich über alle Fragen, die auf diesen Gebieten aufgeworfen werden können, Klarheit zu verschaffen, indem er sich auf jene Fülle von Arbeiten stützt, die in den letzten 30-40 Jahren in naturwissenschaftlichem Geiste geleistet wurden."

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