Februar 09, 2011

Mit Marx gegen Merkel?

Frank Bertemes, Eisenbahnergewerkschaftler und berüchtigter Vielschreiber, erregt sich im heutigen Tageblatt gegen den deutsch-französischen "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit", der eine europäische Wirtschaftsregierung propagiert, Eingriffe in Lohngestaltung, Abschaffung des Index und "Schuldenbremse" nach deutschem Vorbild inklusive, und droht mit einem kommenden Aufstand:
"Und das werden wir, die Gewerkschaften, das arbeitende Volk, das tumbe Wahlvolk in den Augen gewisser Kreise, (...) uns (...) nicht mehr weiter bieten lassen.
Es gibt eben auch Grenzen der Geduld. Und Grenzen des neoliberalen, kapitalistischen Wachstums.
Denn, so Marx in seinen Theorien über den Mehrwert: "Die ganze Weisheit unserer Staatsmänner läuft auf eine große Übertragung von Eigentum von einer Klasse von Personen auf eine andere hinaus."
In dem Sinne nein, Monsieur Sarkozy und Frau Merkel! No! Game over!"
Nun ist das von Bertemes gebrachte "Marxzitat" etwas verwirrend an dieser Stelle, da dort keineswegs von den Grenzen des Wachstums (unabhängig davon ob dieses neoliberal, kapitalistisch oder sonstwie gestaltet ist) die Rede ist, noch von Wettbewerbsfähigkeitspakten und europäischen Wirtschaftsregierungen - vielmehr könnte man das Zitat als eine Absage an eine sozialdemokratische Umverteilungspolitik (die, wenn ich mich nicht irre, doch auch der Autor vertritt) verstehen, in etwa: Statt einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Expropriation der Expropriateure!
Keines von beiden stimmt, wie ein Nachschlagen in den Theorien über den Mehrwert zeigt (Dritter Band der zweiten Auflage der Kautsky-Ausgabe, Stuttgart 1910, S.368). Tatsächlich stammt das vermeintliche Marx-Zitat nicht mal von Marx, vielmehr zitiert Marx in einer Fußnote zustimmend den obskuren "ricardianischen Sozialisten"/Tory-Demokraten "Piercy Ravenstone", der von Sraffa als Richard Puller, Sohn des Leiters der South Sea Company, identifiziert wurde. Wenn man das Zitat im Zusammenhang liest, wirkt es im Kontext von Bertemes' Artikel noch abstruser, setzt Marx doch eine Aussage von "Ravenstone" voran, die gerade das Prinzip selbst der Staatsschuld als absurd deklariert:
"Indem sie vorgeben, die Ausgaben der Gegenwart der Zukunft zuzuschieben; indem sie behaupten, daß man die Nachkommenschaft belasten kann, um die Bedürfnisse der heutigen Generation zu befriedigen, behaupten sie das Absurde, daß man konsumieren kann, was noch nicht besteht, daß man von Lebensmitteln leben kann, ehe deren Samen in die Erde gesät worden sind." (S.367-368)
Man merke also noch einmal: Marx war kein Keynesianer. Hätte er im Gegenzug eine "Schuldenbremse" begrüsst? Nein, denn bekanntlich: "Wenn die Demokraten die Regulierung der Staatsschulden verlangen, verlangen die Arbeiter den Staatsbankrott."
Oder, zitiert Marx an anderer Stelle (S.313) Ravenstone:
"Ein Gutes hat das Schuldensystem, obgleich es dem alten Landadel einen großen Teil seines Eigentums raubt, es überträgt ihn an jene neumodischen Hidalgos als eine Belohnung für ihre Geschicklichkeit in den Künsten des Betrugs und der Unterschlagung. Wenn es Betrug und Gemeinheit fördert, Charlatanerie und Anmaßung in das Gewand der Weisheit kleidet, wenn es ein ganzes Volk in eine Nation von Börsenspekulanten verwandelt... wenn es alle Vorurteile des Ranges und der Geburt niederreißt und Geld zum einzigen Unterscheidungsmerkmal unter den Menschen macht... so zerstört es die Ewigkeit des Eigentums."
(Den englischen Originaltext Ravenstones findet man auf marxists.org. Achtung: Antisemitismus!)

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