April 30, 2012

147 Jahre Max Nettlau

"Seit langem fasziniert mich der Gedanke, wie schön es doch wäre, wenn endlich einmal in der allgemeinen Auffassung über die Aufeinanderfolge der politischen und sozialen Einrichtungen das verhängnisvolle Wort nacheinander durch das so einfache und selbstverständliche nebeneinander ersetzt würde. 'Nieder mit dem Staat!', 'Nur auf den Trümmern des Staates...' sind Empfindungen und Wünsche Vieler, denen aber doch wohl nur das kühle Heraus aus dem Staat [...] zur Durchführung verhelfen kann.
Tritt in einer Wissenschaft eine neue Erkenntnis zu Tage, so arbeiten eben die davon Überzeugten auf dem neuen Weg einfach weiter, ohne die alten Professoren, die dem nicht folgen wollen oder können, überzeugen, zur Akzeptierung der neuen Methode zwingen oder totschlagen zu wollen; die geraten von selbst ins Hintertreffen und verkümmern und vertrocknen, wenn die neue Methode das richtige Leben in sich hat. Allerdings kann in vielen Fällen der böse Wille und die Dummheit der neuen Idee vieles in den Weg legen; darum müssen für die unbedingte gegenseitige Toleranz harte Kämpfe ausgefochten werden, bis sie errungen ist; erst dann geht alles von selbst, die Wissenschaft blüht und gedeiht, weil der für jeden Fortschritt nötige Boden der Versuchsfreiheit und freien Forschung gewonnen ist.
Nur nicht immer 'alles unter einen Hut bringen wollen' - das ist dem Staat nicht gelungen: die Sozialisten und Anarchisten entschlüpften dieser Macht; und das dürfte uns auch nicht gelingen, denn die 'Staatsmenschen' sind nun einmal noch da. Es müßte übrigens uns selbst nur angenehm sein, so einen eingefleischten Staatskrüppel nicht in unserer freien Gesellschaft mitschleppen zu brauchen, und die oft erörterte Frage, was denn mit den Reaktionären geschehen soll, die sich der Freiheit nicht anpassen können, würde dadurch sehr einfach gelöst: die mögen sich ihren Staat behalten, solange sie wollen - nur hat er für uns nicht mehr Bedeutung, über uns nicht mehr Macht, als die verschrobenen Ideen irgend einer religiösen Sekte, um die sich niemand kümmert. So wird es früher oder später kommen; die Freiheit bricht sich überall Bahn.
Als wir einmal auf dem Comosee fuhren, bestieg eine Mailänder Lehrerin mit einer großen Schulklasse das Dampfschiff. Sie wollte, daß sich die Kinder alle niedersetzten und rannte von einer Gruppe zur anderen, das Niedersetzen anordnend - aber kaum hatte sie einer Gruppe den Rücken gedreht, standen die meisten sofort auf und so oft sie das Ganze überblickte, wenn sie, mit dem Ordnen der Kinder fertig zu sein glaubte, standen sie in demselben Durcheinander da wie früher. Statt nun 'streng' zu werden, lachte die junge Frau selbst darüber und ließ die Kinder in Ruhe, von denen sich die meisten bald von selbst niedersetzten. Das ist ein harmloses Beispiel, wie alles, sich selbst überlassen, sich am besten löst, und bevor sich die Idee der gegenseitigen Toleranz in politischen und sozialen Dingen Bahn bricht, könnten wir, nebenbei gesagt, nichts besseres tun, als uns selbst hierfür vorzubereiten, indem wir sie in unserm eigenen täglichen Leben und Denken ins Werk setzen; wie oft handeln wir noch selbst ihr entgegen?
Diese Worte sollen zeigen, wie lieb mir diese Idee geworden ist, und begreiflich machen, daß ich mich freue, in einem verschollenen Aufsatz einen Vorläufer dieser Idee gefunden zu haben, von der sonst in unserer Literatur, der der Kampf freilich aufgezwungen wurde, nicht viel die Rede ist. Ich meine den Artikel Panarchie von P. E. de Puydt in der Revue Trimestrielle (Brüssel), Juli 1860, SS. 222 - 245. Der mir sonst bis jetzt unbekannte Verfasser, um den ich mich noch nicht kümmerte, um mir den Eindruck seiner Ideen nicht zu stören, steht den sozialen Bewegungen wohl fern, hat aber einen klaren Blick dafür, wie das jetzige politische System, nach welchem sich Alle einer durch Majoritätsbeschluß oder sonst irgendwie entstandenen Regierung fügen sollen, einfach dem elementarsten Freiheitsbedürfnis ins Gesicht schlägt."

Auszug aus: "Panarchie. Eine verschollene Idee von 1860", in Der Sozialist vom 22. Februar 1909. Den ganzen Artikel findet man hier: http://www.panarchy.org/nettlau/1909.de.html

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