Mai 05, 2012

199 Jahre Søren Kierkegaard, 194 Jahre Karl Marx


"Gleich wie das innerliche Licht der spiritualen Mystik in Münzers Theologie der Revolution zur verzehrenden Flamme wird, so schlägt der Funke von Hegels Philosophie zum Feuer der revolutionären Lohe von Marx um. 'Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust' [vgl. MEW, 40, S.328] ist. Bisher frei schwebende Hoffnungen werden plötzlich diesseitig weltlich, innerlich gehegte Träume werden nach außen gekehrt und erfüllen mit besonderer Wucht das Geschehen der Geschichte.

Während jedoch Thomas Münzer in seiner Kritik der mittelalterlichen Welt beide Elemente, das religiöse und soziale, vereinigt, wird am Ende der bürgerlichen Welt die Kritik getrennt vom Marx und Kierkegaard geführt. Am Ende der bürgerlichen Welt verkünden Marx und Kierkegaard, kurz vor 1848, den endgültigen Bruch der bürgerlichen Gesellschaft: Marx im Kommunistischen Manifest (1847), Kierkegaard in der Literarischen Anmeldung (1846). So fern Marx und Kierkegaard einander scheinen, so nahe sind sie miteinander im gemeinsamen radikalen Angriff gegen die bürgerliche Gesellschaft und im Entspringen aus Hegel verwandt. (...) Der Gegensatz von Marx und Kierkegaard stellt, wie Löwith erweist, nur zwei Seiten einer identischen Kritik und gemeinsamen Zerstörung der bürgerlich-christlichen Welt dar. Zur Revolution der bürgerlich kapitalistischen Welt stürzt sich Marx auf die Masse des Proletariats, auf die wirtschaftliche Existenz der Masse, während Kierkegaard in seinem Kampf gegen die bürgerlich-christliche Welt alles auf den Einzelnen stellt. Dem entspricht, daß für Marx die bürgerliche Gesellschaft eine Masse von 'vereinzelten Einzelnen' ist, in welcher der Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, während für Kierkegaard die Christenheit ein massenhaft verbreitetes Christentum ist, in dem niemand die Nachfolge Christi ernst nimmt. Marx richtet seine Kritik auf die Selbstentfremdung, die für die Menschen der Kapitalismus ist, und für Kierkegaard richtet seine Kritik auf die Selbstentfremdung, die für die Christen die Christenheit ist."
(Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie (1947), hier zitiert nach der Ausgabe Berlin, 2007, S.224-225).

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